Von der SED zur PDS

Ein Rückblick

Von Gregor Gysi

In der DDR reifte zugespitzt im Verlauf des Jahres 1989 eine fundamentale Legitimationskrise des herrschenden Systems heran. Jeder, der die damalige politische Situation persönlich erlebt hat, erinnert sich vermutlich noch an diese Gleichzeitigkeit von Gefühlen der Lähmung und Ratlosigkeit, aber auch der Ahnung, dass sich grundsätzlich etwas ändern muss, dass es so nicht mehr weitergehen konnte.

Die Parteiführung um Erich Honecker litt unter Realitätsverlust. Die Wirklichkeit – Massenflucht aus der DDR und die sprunghaft anwachsende Protestbewegung im Land – zeigte, dass die Bevölkerung nicht mehr so weiterleben wollte wie bisher. Die Krise griff in weite Teile der Kulturschaffenden, der SED, der Blockparteien und der Massenorganisationen, der unteren und mittleren Funktionärsschichten, und der Sicherheitsapparate über. Das mag einer der Gründe dafür gewesen sein, dass es im Oktober 1989 keine »chinesische Lösung«, keine gewaltsame Unterwerfung der Proteste gab. Im Unterschied zum 17. Juni 1953, zur Intervention in Ungarn 1956 und zur Niederschlagung des »Prager Frühling« 1968 erklärte die sowjetische Führung unter Gorbatschow, sich nicht in die inneren Entwicklungen der anderen staatssozialistischen Länder einzumischen, sofern sie Mitglieder des Warschauer Vertrages und des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe blieben.

Die SED-Führung versuchte im Oktober 1989, vom Getriebenen wieder zum Akteur politischen Handelns zu werden. Nachfolger Erich Honeckers wurde am 18. Oktober Egon Krenz, der nicht gerade als Sympathieträger in der Bevölkerung galt, denn auch er repräsentierte die alte Nomenklatura. Diese war nicht gewillt, abzutreten und den Reformkräften in der SED um Hans Modrow oder Wolfgang Berghofer ausreichend Platz zu machen, um glaubwürdig grundlegende Veränderungen einzuleiten.

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Wir erklärten uns für zuständig

Lothar Bisky über die Agonie in der DDR der Achtzigerjahre, über die Chance für den Neuanfang 1989/90 und die neue Erdung der Partei

Du bist Ende 1989, wie du im Buch »So viele Träume« geschrieben hast, »etwas überraschend in die Politik« geraten und meinst dies wohl vor allem in Form einer Funktion. Was ging diesem Schritt voraus?
Mir ist es in den Achtzigerjahren so gegangen wie vielen SED-Mitgliedern: Man wurde zunehmend skeptisch. Es waren Jahre der Agonie in der DDR. Und dann kamen Gorbatschow und Glasnost. Das haben wir in der Filmhochschule aufgenommen und praktiziert, die Studenten haben auch problematische Themen aufgegriffen und gute Filme gemacht.Im Grunde genommen lag das Land wie in einem Winterschlaf. 1989 wurde es immer schwieriger, die Studenten wurden unruhig. Von ihnen gab es bei den Kommunalwahlen am 7. Mai wohl überdurchschnittlich viele Gegenstimmen. Ich denke, es war ein ehrliches Resultat. Das wurde mir als Rektor verübelt, und ich bekam viel Kritik.

Wie war das konkret im Spätsommer ’89 an der Filmhochschule?
Die Studenten wollten in Ungarn und in Prag bei den Flüchtlingen drehen. Wir wollten wissen, warum sie die DDR verlassen. Das war doch eine existenzielle Frage für das Land. Wir hatten die Kameras und die Autos, die Studenten waren bereit, aber niemand gab uns eine Drehgenehmigung. Da ist mir die Hutschnur geplatzt und ich habe mich am 9. Oktober die Vertrauensfrage gestellt. Die Studenten haben sie positiv beantwortet. Das war für mich die Entscheidung, und ich habe gesagt: Wir müssen jetzt was riskieren: Wir erklären uns für zuständig. Wir nehmen die Kameras und drehen dort, wo wir es für richtig halten – unter zwei Bedingungen: Erstens wird versucht, objektiv zu bleiben, und zweitens kriegt niemand anderes die Bilder, damit war das Westfernsehen gemeint, aber auch die Stasi. Das wurde so verstanden und eingehalten. Die Studenten sind mit den Kameras los und haben gefilmt. Auf der Internationalen Dokumentar- und Kurzfilmwoche Ende November in Leipzig, wo Filme über die brodelnde Zeit gefragt waren, bekamen die Studenten für diese Filme völlig zu Recht die »Goldene Taube« ehrenhalber. Ich war vielleicht der einzige direkt gewählte Rektor. Vorher hatte ich schon zusammen mit den Studenten eine Erklärung an das Zentralkomitee der SED geschrieben, das war nicht so ganz ohne. Aber wir wollten Glasnost auch in der DDR, die Filme sollten von der Realität erzählen, die Studenten sollten sich nicht schämen, an dieser Hochschule zu studieren. Man kann doch einem Studenten nicht verbieten, dort zu filmen, wo was los ist. Dazu gehörte die Demonstration am 4. November in Berlin für die Verwirklichung der Verfassung. Es war die größte Demonstration in der DDR. Die Künstler hatten mich gebeten, dort zu reden und die Leute aufzufordern, sich der Wahl zu stellen. Das konnte ja nur einer tun, der es selber gemacht hatte. Ich habe dann auf dem Alex alle Amtsinhaber in der DDR aufgefordert, sich demokratisch legitimieren zu lassen. Das war mein Weg in die Politik.

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Auflösen oder Erneuern?

Erklärung des Sprecherrates der Historischen Kommission beim Parteivorstand der LINKEN zum Außerordentlichen Parteitag der SED im Dezember 1989

Zu den Ereignissen, an die im Zusammenhang mit den Vorgängen vor 30 Jahren zu erinnern ist, zählt zweifelsohne der Außerordentliche Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands im Dezember 1989.

Angesichts sich überschlagender Ereignisse und der tiefen Krise, in der sich die DDR und die Partei selbst befanden, waren einschneidende Entscheidungen unumgänglich. Die über Jahrzehnte »führende« und mit umfassender Macht ausgestattete Parteispitze allerdings lief den Ereignissen bestenfalls hinterher. Die Ablösung und der Austausch von Personen an der Führungsspitze und die kosmetischen Operationen der zurückliegenden Wochen hatten weder die Basis der Partei noch die Bevölkerung der DDR in ihrer Gesamtheit befriedigen können. Ein außerordentlicher Parteitag mit entsprechenden Befugnissen musste über das Schicksal der Partei und ihren künftigen Weg entscheiden. Die ursprünglich vorgesehene Parteikonferenz hätte das nicht vermocht.

In dieser Situation stand die Forderung nach Auflösung der Partei im Raum. Nicht wenige der verbliebenen Mitglieder und Teile der Delegierten sahen einen solchen Schritt als logische Konsequenz aus dem Versagen bei der Bewältigung der seit Jahren herangereiften gesellschaftlichen Konflikte und dem galoppierenden Vertrauensverlust.

In einer geschlossenen Sitzung in der Nacht vom 8. zum 9. Dezember – ohne Gäste und Medienvertreter – entschieden sich die Delegierten des Außerordentlichen Parteitags gegen die beantragte Selbstauflösung. Es war insbesondere Hans Modrow – erst wenige Tage zuvor in das Amt des Ministerpräsidenten der DDR gewählt –, der die Delegierten beschwor, sich gerade wegen der Krise ihrer Verantwortung zu stellen. Die Delegierten wählten den bis dahin kaum bekannten Gregor Gysi zum Parteivorsitzenden. Ihm wurde spontan ein Besen überreicht.

Die Entscheidung zur Erneuerung der Partei war ein Akt der Selbstermächtigung in einer komplizierten, schwer zu überschauenden Situation. Schon die erstrittene Einberufung des außerordentlichen Parteitages durch eine von Teilen der Basis gestützten Arbeitsgruppe war ein solcher Schritt.

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»Wir brechen unwiderruflich mit dem Stalinismus als System«

Diskussionsbeitrag von Dr. Ronald Friedmann zum 30. Jahrestag des Außerordentlichen Parteitags der SED-PDS im Dezember 1989 zur Beratung in der Historischen Kommission der Partei DIE LINKE

Im Herbst 1989 befand sich die DDR im Ergebnis grundsätzlicher struktureller Deformationen und einer über Jahre und Jahrzehnte hinweg verfehlten Politik der Führung des Landes in einer existentiellen Krise. Die offiziellen Feierlichkeiten aus Anlass des 40. Jahrestages der DDR am 7. Oktober 1989 wirkten in dieser Situation wie der sprichwörtliche »Tanz auf der ›Titanic‹«.

Sichtbarster Ausdruck dieser Krise war die Flucht von hunderttausenden, vor allem jüngeren  Bürgerinnen und Bürgern der DDR in den Westen, die auf der Suche nach Reisefreiheit und scheinbar unbegrenztem Konsum nicht nur ihr bisheriges Lebensumwelt, Freunde und Verwandte, sondern auch die soziale Sicherheit der DDR aufgaben.

Die Führung der SED erging sich in totaler Sprachlosigkeit, sie war unfähig zu einer auch nur in Ansätzen selbstkritischen Reaktion auf die zunehmend drängenden Probleme im Land.

Als Hoffnungszeichen konnten lediglich die überall in der DDR immer zahlreicher werdenden (Montags-) Demonstrationen unter der Losung »Wir sind das Volk« gesehen werden, mit denen seit Anfang September 1989 – und insbesondere seit dem 9. Oktober 1989 in Leipzig – eine ständig wachsende Zahl von Demonstranten, unter ihnen viele Mitglieder der SED, eine demokratische Erneuerung der sozialistischen DDR forderte.[1]

In der Folge setzte sich auch in Teilen des Politbüros die Erkenntnis durch, dass nunmehr personelle und politische Veränderungen zwingend notwendig waren, um eine Eskalation der Lage zu verhindern. Nach Abschluss der offiziellen Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR wurde daher im Politbüro die Ablösung Erich Honeckers als Generalsekretär und der für Wirtschaft bzw. Medien zuständigen Sekretäre des ZK, Günter Mittag und Joachim Hermann, durchgesetzt. Doch schon die offizielle Begründung für den erzwungenen Rücktritts Erich Honeckers – seine zweifellos vorhandenen gesundheitlichen Probleme – machte deutlich, dass der innere Führungszirkel der SED weder bereit noch in der Lage war, den Ernst der Stunde in vollem Umfang zu begreifen und angemessen, also offen und ehrlich, zu reagieren.

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Wir warben um Vertrauen

Im Gespräch mit Maritta Böttcher. Sie hat vor 25 Jahren eine Kreisleitung der SED geleitet – und sich dann mit aller Kraft und erfolgreich für die Erneuerung der Partei eingesetzt

Maritta, du hast das Ende der SED sehr unmittelbar miterlebt, ein bisschen auch mit verantwortet: als 1. Sekretärin einer SED-Kreisleitung. Und du hast den Beginn einer neuen Partei mitgestaltet. Über diesen Bruch wollen wir reden, über deine Erlebnisse und Erfahrungen vor einem Vierteljahrhundert.
Wir sagen »Herbst ’89« und meinen die Monate bis zur Volkskammerwahl am 18. März 1990, die mit einem dramatischen Sieg der CDU und ihrer Partner ausging. Wie ordnest du die Monate bis zu diesem Wahltag in deiner Biografie ein? Politisch und beruflich war es meine intensivste, schnelllebigste und schwierigste Zeit überhaupt.

Bevor wir darauf näher zu sprechen kommen, solltest du kurz erläutern, welchen Platz 1. SED-Kreissekretäre in der DDR-Gesellschaft einnahmen. Wie wichtig waren sie? Was hattet ihr zu entscheiden?
So ein 1. Sekretär war die wichtigste Person in »seinem« Kreis, er war schlichtweg für alles verantwortlich. Ob ein Verkehrsunfall am Morgen, fehlende Schrippen am Mittag oder ein Waldbrand am Abend – alles hatte der 1. Sekretär zu erfahren und um alles sollte er sich kümmern, und zwar sofort. Dabei gab es genug gute Leute, die für die Lösung der einzelnen Aufgaben zuständig waren. Der 1. Sekretär war gleichzeitig Vorsitzender der Kreiseinsatzleitung. Die sollte den Kreis bei Sonderfällen wie Katastrophen leiten. In dem Gremium saßen neben mir die Kreis-Leiter der Volkspolizei, des Ministeriums für Staatssicherheit, des Wehrkreiskommandos und des Rates des Kreises. Außerdem war der 1. Sekretär Vorsitzender des Demokratischen Blocks der Nationalen Front mit den anderen Parteien (CDU, DBD, LDPD, NDPD). Da gab es regelmäßig Beratungen bis hin zu Personalfragen für Ämter und Rathäuser.

Wer entschied, dass du die Parteichefin des Kreises Jüterbog wirst?
Die Bezirksleitung Potsdam hatte das vorgeschlagen, und das Politbüro des Zentralkomitees hat das beschlossen – pro forma gewählt wurde ich von der Kreisdelegiertenkonferenz der SED: im September 1988, im Kultursaal der Vorzeige-LPG Oehna.

Mit wieviel Prozent der Stimmen?
Mit hundert Prozent, glaube ich.

Wie war dein Vorgänger?
Ich löste einen ab, der sehr lange in dieser Funktion gewesen war, 26 oder sogar 28 Jahre. Ich dagegen: relativ jung, 34, zwei kleine Kinder, der Mann beim Rat des Kreises. Das war schon ein gewaltiger Unterschied.

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Gregor Gysi und Janine Wissler im Gespräch über den Hebst 1989, die DDR, Karl Marx, den demokratischen Sozialismus und was das alles für DIE LINKE bedeuten kann.